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Ethnographie steht in einem spannungsvollen Verhältnis zu Öffentlichkeit(en). Sie präferiert auf den ersten Blick die kleinen Welten, die mikrologischen Verhältnisse, die kulturellen und institutionellen Praktiken in einem umgrenzten, lokal beobachtbaren Raum. Gleichzeitig erzeugt sie unweigerlich Öffentlichkeitseffekte in den von ihr untersuchten lokalen Welten – mit dem Eintritt des Beobachters ins Feld, spätestens aber mit der Veröffentlichung der Ergebnisse ihrer Beobachtungen. Erziehungswissenschaftliche Ethnographie wird aber auch mit verschiedenen Öffentlichkeitsformen konfrontiert, die für untersuchte (pädagogische) Felder selbst konstitutiv sind. Sie trifft auch auf Spuren medialer Öffentlichkeit, etwa der Skandalisierung (sozial-)pädagogischer Institutionen und der Konstruktion von Vorstellungen über ‚Erziehung‘, ‚Bildung‘ und ‚Hilfe‘. Besonders in der internationalen Ethnographie-Diskussion wird nun verstärkt dazu aufgefordert, sich auch selbst breiteren Öffentlichkeiten bewusst zuzuwenden. Vor diesem Hintergrund bietet sich ‚Öffentlichkeit’ als Kategorie an, mit der sowohl gegenstandstheoretische und methodologische Entwicklungen erziehungswissenschaftlicher Ethnographie als auch ihre gesellschaftliche Rolle neu zu reflektieren sind.

Gegenstandsbezogen stellt sich die Frage, wie sich Öffentlichkeiten gegenwärtig wandeln oder neu formieren. In der bürgerlichen Gesellschaft wurde die ‚Öffentlichkeit’ als eine Sphäre konstruiert, die der familiär und persönlich konnotierten Privatheit entgegengesetzt war. Öffentlichkeit war von einer Emphase für Teilhabemöglichkeiten, gesamtgesellschaftliche Transparenz und demokratische Aushandlung getragen. Zugleich jedoch hat die bürgerliche Öffentlichkeit bestimmte Machtverhältnisse etabliert, soziale Schließungen hervorgebracht und war nicht zuletzt von einem patriarchalen Geschlechterverhältnis geprägt. Entwicklungen der letzten Dekaden etwa im Bereich der neuen Medien, der Digitalisierung der Lebensverhältnisse, der Veränderungen des politischen Raumes, haben nicht nur neue Formen von Öffentlichkeit hervorgebracht, sondern gehen mit einem grundlegenden Wandel der Kategorie des Öffentlichen einher, der erst ansatzweise untersucht wird. Erziehungswissenschaftlich ergeben sich daraus u.a. folgende Fragen:

– Welche neuen Öffentlichkeiten werden im Zuge etwa der gestiegenen Bedeutung von Partizipation, von institutioneller und professioneller Kooperation (z.B. Übergänge, Bildungslandschaften, Kinderschutz) sowie ‚neuer Aufmerksamkeiten für Familie’ erzeugt oder verändert?

– Wie verändert sich die Gegenstandskonstitution des ‚Pädagogischen’ in unterschiedlichen Feldern (etwa der Familienerziehung) angesichts dessen, dass sie sich im Kontext von multiprofessioneller und institutioneller Kooperation sowie in Formaten (digitaler) Dokumentation vollzieht?

– Wie können Sozialisations- und Lernprozesse in virtuellen Kontexten durch erziehungswissenschaftliche Ethnografie erfasst werden und wie verändert sich in diesen neuen Öffentlichkeiten das, was unter Sozialisation und Lernen verstanden wird?

Methodologisch scheint Ethnographie die Öffentlichkeit sozialer Praktiken als Voraussetzung ihrer Beobachtbarkeit eingeschrieben. Zugleich ist Ethnographie in ein Spiel des Öffentlich-Machens eingebunden: Sie tritt als Praxis der Beobachtung in Felder ein, die selbst nach der Differenz von öffentlich und privat strukturiert sind – dies gilt insbesondere für erziehungswissenschaftlich relevante Felder. Dabei verändert die Ethnographie diese Differenz unweigerlich: So können ‚private’ Räume durch ‚teilnehmende‘ Beobachtung ‚öffentlich’ werden oder lokale ‚Öffentlichkeiten’ in einen größeren öffentlichen Raum einbezogen werden.

Vor diesem Hintergrund stellen sich unter anderem folgende methodologische Fragen:

– Wie verändert sich der Modus der ‚Teilnahme‘,  aber auch von Erhebungs- und Auswertungsverfahren (Körperlichkeit des teilnehmenden Beobachters, Aufzeichnungstechnologien) in ethnographischer Forschung angesichts sozialer Medien und digitaler Öffentlichkeiten?

– Wie werden Öffentlichkeiten durch ethnographische Forschung praktisch und in Relation zu den im Feld gebräuchlichen Codierungen von öffentlich und privat hervorgebracht?

– Welche forschungsethischen Fragen ergeben sich aus neuen Möglichkeiten der Sichtbarmachung und Veröffentlichung, u.a. mittels neuer Formen wie etwa Film, Theater etc.?

Politisch ist die Ethnographie unweigerlich durch den Vollzug ihrer Praxis und aufgrund der Beziehungen, die sie zu ihren Untersuchungsfeldern aufbaut. Zudem veröffentlicht sie ihre Ergebnisse, tritt in von Machtverhältnissen geprägte Öffentlichkeiten ein und verschafft auch den Beobachteten eine neue Öffentlichkeit. In Frage steht, wie sie diese politische Dimension ihrer eigenen Praxis reflektiert und selbst beobachtet, ob sie sie explizit gestaltet, und welchen politischen oder kritischen Einsätzen dann zu folgen wäre. Mit Ansätzen wie der ‚Public Ethnography’ zeichnet sich neben der beschreibenden und der analytischen Ethnographie ein neuer Typus ethnographischer Forschung ab, der in der erziehungswissenschaftlichen Ethnographie bisher noch wenig Beachtung findet. Zu diskutieren ist daher unter anderem auch, wodurch eine ‚Public Educational Ethnography’ kennzeichnet sein könnte:

– Wie nimmt erziehungswissenschaftliche Ethnografie ihre Effekte auf die pädagogischen Felder, aber auch auf die Erziehungswissenschaft als Disziplin sowie auf die medialen, gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeiten in den Blick?

– Aber auch: Welche Risiken gehen mit einer sich politisch verstehenden erziehungswissenschaftlichen Ethnografie einher? Wie verändert sich die methodologische Ausrichtung der erziehungswissenschaftlichen Ethnografie, wenn sie einen Anspruch auf politische Einflussnahme erhebt? Welche Rolle spielt partizipative ethnografische Forschung (‚collaborative ethnography’) in diesem Kontext?

– Wie kann die allgemeine Verständlichkeit und Attraktivität von Ethnographie erhöht werden? Welche Darstellungstechniken sind geeignet, um ethnographische Ergebnisse auch jenseits der textlichen Einbindung in Theoriediskurse zu vermitteln?

Erziehungswissenschaftliche Ethnographie erforscht Öffentlichkeiten, sie erzeugt sie, und sie wendet sich mit ihren Ergebnissen an Öffentlichkeiten. Für Beiträge zu diesen drei Dimensionen ethnografischer Forschungspraxis ebenso wie für Diskussionen ihrer Wechselverhältnisse lädt die internationale Tagung ein.

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